Anleitung zur Selbstüberlistung

Prof. Dr. Christian Rieck ist einer der reichweitenstärksten Professoren Deutschlands, Professor für Finance und Wirtschaftstheorie. Er forscht mithilfe der Spieltheorie zur Zukunft des Geldes, zur digitalen Zukunft und zur inneren Mechanik von Krisen. Auch außerhalb der wissenschaftlichen Fachkreise hat er sich als Keynote Speaker und YouTuber mit über 300.000 Followern Kult- und Expertenstatus im Bereich Spieltheorie erworben. Mit Simulationen und Experimenten untersucht Prof. Dr. Christian Rieck die verschiedensten Entscheidungssituationen, besonderes Augenmerk legt er dabei auf das strategische Zusammenspiel von Menschen und künstlicher Intelligenz sowie auf die Rolle von Krisen und dem Managen unbekannter Risiken. Zu seinen Büchern zählen u. a. „Spieltheorie: Eine Einleitung“, „Die 36 Strategeme der Krise – erfolgreich werden, wenn andere scheitern“ und „Digni-Geld – Einkommen in den Zeiten der Roboter“. In seinem Buch „Anleitung zur Selbstüberlistung. Machen Sie Ihr Leben zu einem Spiel, in dem Sie stets gewinnen“ zeigt er Ideen auf, wie wir unser Leben nach unseren eigenen Regeln spielen und nicht nach den Regeln anderer. Er plädiert für ein Tagesgeschäft, das Spaß macht und uns langfristig weiterbringt.

Am Ende des Tages fragen sich viele, wo ist der Tag nur geblieben? Obwohl wir genau wissen, was wir tun sollten, lenken uns innere Agenten in unserem Kopf mit unwichtigen Dingen ab, anstatt uns um die langweiligen, langfristigen Aufgaben zu kümmern. Anhand genialer Lifehacks zeigt Christian Rieck Wege auf, um unsere eigenen Gegenspieler effektiv zu überlisten – für mehr Erfolg und weniger Stress im Alltag.

„Mechanismusdesign ist die Kunst, Spielregeln so zu gestalten, dass die Spieler ‚freiwillig’ ein gewünschtes Ergebnis hervorbringen“.

Das Direktorin-Angestellten-Problem: Wie bekommt die Direktorin die Angestellten dazu, das zu tun, womit sie beauftragt ist, obwohl sie nicht alles kontrollieren kann? Sie kann genaue Anweisungen geben oder sie gibt ein Ziel vor und hofft, dass die Angestellten eigenständig eine Methode entwickeln, um dies zu erreichen. Da beide Wege zum Scheitern verurteilt sind, braucht sie sich zwischen keinen von beiden entscheiden. Der erste Weg scheitert, weil die Welt zu komplex ist, der zweite Weg scheitert an den Angestellten und der Wahl zwischen viel Arbeit und Lebensgenuss (Kaffeetrinken). Wie also bekommt die Direktorin ihre Angestellten dazu, das zu tun, was sie will?

„Das Verständnis der Aktivierungsenergie ist eines der wichtigen Elemente bei der Selbstüberlistung.“

 Nur allzu oft liegt das Gute direkt um die Ecke, doch wir lassen es liegen, weil der Agent einfach nicht um die Ecke gehen – mitunter noch nicht mal denken – will. Die Dauer einer Tiefkühlpizza dauert ca. 20 Minuten, die Zubereitung einer köstlichen Mahlzeit ca. 61 Minuten. Angenommen, der hungrige Agent wird nach 60 Minuten vom nächsten Agenten abgelöst, dann zuckt der hungrige Agent nur mit den Schultern und wird sich für die Tiefkühlpizza entscheiden. Eine ähnliche Vorliebe für Sofortigkeit zeigt sich bei einem Studenten, der sich bei einer Klausur verspätet, nachdem er den richtigen Raum nicht finden konnte. Die genauen Hinweise mit allen Wegbeschreibungs-Details zu lesen, dazu hatte der Student keine Zeit. „Vorzieheritis (Präskrastination) ist der Hang dazu, Aufgaben überstürzt und ohne ausreichende Planung oder Überlegung anzugehen, sodass sie weniger effektiv ausgeführt werden.“ Motivierte Agenten sind durchaus dazu bereit zu arbeiten, doch führt dieses fleißige Abarbeiten mitunter dazu, nicht notwendige Arbeit zu erledigen.

„Wer an einem Marathon teilnimmt, will sich nicht von einem Taxi zum Ziel fahren lassen.“

Im Leben bekommen viele Dinge erst ihren Wert, indem sie auf eine schwierige Weise erledigt werden, ohne Abkürzung. Nach der Spieltheorie heißt das, ein Spiel zu spielen und dabei freiwillig künstlich geschaffene Hindernisse zu überwinden. Aber ist das nicht im Grunde das, was die Direktorin sich von ihren Angestellten wünscht? Elemente, aus denen (Computer)Spiele zusammengesetzt sind, können wir auch im echten Leben einsetzen, sodass wir im Spiel unseres eigenen Lebens nicht nur im Moment des Jetzt glücklich sind, sondern auch rückblickend auf ein erfolgreiches Leben zurückschauen können. Es gibt zwei Formen von Glücksgefühl: Hedonie, unmittelbare Glücksgefühle, die uns zeitnahe Erfolgserlebnisse und häufige Überraschungen bescheren und Eudämonie, das dauerhafte Glück wie durch persönliche Weiterentwicklung oder einem Gemeinschaftsgefühl.

„Wenn du nicht weißt, wohin du willst, ist es egal, welchen Weg du nimmst.“

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

 Touristengruppen mit einem Reiseführer in der Hand, die alles brav abhaken, was andere für sehenswert halten. Nicht wissend, was sie alles verpasst haben, wenn sie nicht auf den Plan, sondern auf die echte Welt geschaut hätten. Ziele sind nicht mehr zeitgemäß, denn sie berauben uns der Flexibilität. Nehmen wir das Zitat aus Alice im Wunderland, dann heißt das im Umkehrschluss: „Du kannst nur dann falsch gehen, wenn du dich vorher auf ein Ziel festgelegt hast.“ Wenn wir Ziele durch Richtungen ersetzen, gehen wir nicht versehentlich im Kreis und lassen uns zugleich genug Spielraum, um flexibel reagieren zu können. Wir beziehen unsere Agenten mit ein, fordern sie heraus. Daher lautet die wichtigste Technik: vertraue dem Prozess. Anstatt uns auf das Ziel und ein Endergebnis zu konzentrieren, wissen wir den Prozess des Wachstums und der Veränderung zu schätzen. Unsere Agenten bekommen nicht mehr detailliert vorgeschrieben, was sie tun sollen, sondern können Aufgaben erfüllen, denen sie gewachsen sind und die sie mitgestalten können. So machen wir sie zu unseren Verbündeten.

„Für das eigene Leben wichtig: Werde ich die Tätigkeit auf dem Sterbebett liegend zurückblickend für wichtig halten?“

Bei der Regnose betrachten wir die Gegenwart aus Sicht der Zukunft. Halten wir die Geschäftsmail dann noch für wichtig oder bereuen wir, nicht mehr Zeit mit den eigenen Kindern verbracht zu haben?! Diese Form der Wichtigkeit bezieht sich auf Dinge, auf die wir später positiv zurückblicken können. Sie umfassen die Bereiche wie Beziehungen, etwas geschafft oder erschaffen zu haben und „Unvernünftiges“. Mit Blick zurück erfüllen sie uns mit Stolz oder Freude. Betrachtet man die unvernünftigen Dinge in der Gegenwart, dann sind sie womöglich alles andere als positiv, weil sie anstrengend und herausfordernd gewesen sind. Aber sie geschafft oder getan zu haben, kann ein Erlebnis fürs Leben sein.

„Meist ist gar nicht das Problem, dass wir etwas nicht machen; das Problem ist, dass wir nicht anfangen.“ 

Wandern kann über große Teile des Tages ziemlich unangenehm sein und doch gibt es viele Leute, die das gern und regelmäßig tun. Die Arbeit selbst und der Anfang sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Also müssen wir damit auch zwei unterschiedliche Agenten beauftragen. Der erste Planungsagent sucht den Einstieg, indem er Karten liest und die Sachen bereitlegt. Der zweite Wanderagent würde ansonsten überstürzt loslegen (präkrastinieren), weil er ja wandern und nicht Karten lesen will. Potenzielle Probleme wie ein zugewachsener Weg werden damit vom ersten Agenten aus dem Weg geräumt. So verlieren vermeintlich unüberwindliche Aufgaben ihren Schrecken, weil sie auf „Spezialagenten“ aufgeteilt werden. Planen Sie den ganzen Weg aber nicht bis ins Kleinste genau, denn das ist ein sicheres Mittel, nie loszugehen.

Auf dem Weg zu sich selbst  

Verena Kast Titelbild

Verena Kast, Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut in Zürich. Sie hat zahlreiche, viel beachtete Werke zur Psychologie und der Interpretation von Märchen und Träumen verfasst. Bekannte Werke sind u. a. „Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung“, „Immer wieder mit sich selbst eins werden“ und „Schlüssel zu den Lebensthemen. Konflikte anders sehen“. Im Buch „Auf dem Weg zu sich selbst“ wurden Stellen zusammengetragen, die sich alle mit dem Individuationsprozess beschäftigen und zur Auseinandersetzung mit sich selbst anregen.

„Ganzwerden ist eine Utopie. Wir sind bestenfalls auf dem Weg.“

Das Ziel der Individuation bedeutet, der Mensch zu werden, der wir sein können. Oder auch: wachsen und sich entfalten. Aber ist das nicht automatisch eine Folge unseres natürlichen Lebensprozesses, die zu werden, die wir eigentlich sind? Werden wir nicht im Verlauf unseres Lebens immer echter und unverwechselbarer wir selbst? Ganz so selbstverständlich ist das nicht, denn indem wir in Beziehungen mit anderen stehen, müssen wir Kompromisse finden und uns anpassen. Wenn wir dann nicht mehr im Einklang mit uns selbst sind, haben wir uns verraten, sind uns untreu geworden. Passen wir uns so sehr an, weil wir den anderen gefallen wollen, dann sind wir nicht mehr bei uns und wissen irgendwann nicht mehr, wer wir sind. Wir werden zu einer künstlichen Persönlichkeit. Individuation hat zwei wesentliche Aspekte: Wir werden nie wissen, wer wir sind und wer wir sein können. Und, das Individuationsprinzip befindet sich immer in Auseinandersetzung mit den Erwartungen einer bestimmten Kultur an den Menschen. Individuation ist ein Prozess der Ablösung und Selbstwerdung, ein Weg zur eigenen Mitte und Tiefe. Nach dem Jungschen Verständnis heißt das Ganzheit, die zu jeder Zeit etwas anderes ist.

„Die Lebensaufgabe, die die Eltern nicht erfüllten, wird zur Lebensaufgabe, die die Kinder zu erfüllen haben.“

Nach dem Weltbild der Jungschen Psychologie ist das, was außen ist, auch innen und das, was innen ist, auch außen. Das heißt, sich nicht nur von kollektiven Werten, Elternkomplexen und Rollenerwartungen zu lösen, sondern auch vom Verhaftetsein ans Unbewusste. Mündig werden. Wenn wir etwas nicht loslassen können, an Ort und Stelle treten, wird die Energie, die wir eigentlich für den Neuanfang bräuchten, für den Kampf und die Wut gegen uns selbst benutzt. Dann treten anstelle lebendiger Entwicklung starre Gesetze ein als Zeichen von Unsicherheit und Angst. Wir trauen uns positive schöpferische Veränderungen nicht mehr zu. Dann versuchen wir, die Probleme mit den alten (untauglichen) Methoden zu lösen, verschleppen sie aber dadurch nur noch mehr.

„Mit Macht versuchen wir also etwas festzuhalten, was sich nicht mehr von selbst am Leben hält, sich also dringend verändern müßte.“

Zur Autonomie gehört es, dass wir unsere Werte und Haltungen überprüfen.  Ein Schritt Richtung Autonomie ist es, zunächst einmal die Situationen zu verlassen, in denen diese herrschen. Denn solange wir daran festhalten, sind wir zwar einigermaßen sicher, aber nicht wirklich autonom. Autonomes Handeln wird von Gefühlen wie Selbstbewirkthaben, Schuldigsein, aber auch der Stimmigkeit begleitet. Ein wesentliches Element der Autonomie ist die Sehnsucht, sie zieht uns raus aus dem Gewohnten und lässt uns nicht verzagen, wenn wir eine Durststrecke durchlaufen. Sie gibt uns den Mut, ins Unbekannte hinauszugehen.

„Natürlich lassen wir nicht gerne los, lassen wir nichts gerne sterben, was uns noch lieb ist. Aber gerade dann bleibt das Leben lebendig, wenn wir auch immer wieder etwas sterben lassen.“

Wir sind verwurzelt in mannigfacher Weise. Im Laufe des Lebens werden einige Wurzeln unwichtig, manche kappen wir selbst ab, weil wir uns verändern möchten. Dabei erleben wir eine Zeit der „Wurzellosigkeit“, die sich in Unsicherheit, Unruhe, des Suchens und einer Angst zeigt, in der uns klar wird, dass wir etwas hinter uns gelassen haben. Erst wenn wir der Trauer Raum geben, diese zulassen, lösen wir uns von der alten Verwurzelung. Tun wir das nicht, bleiben wir „unverwurzelt“ zurück, in einer Art Übergangssituation. Die alte Situation existiert nicht mehr, der neuen traut man nicht. Ob wir eine Krise als eine Lebenssituation sehen können, in der sich existenziell Wichtiges ereignet oder als lästiges unwillkommenes Beiwerk des Lebens, hat Einfluss darauf, ob eine Krise zu einer Chance wird. Zu wissen, dass jede Krise eine grundsätzliche Wandlung entstehen lassen kann, ist dabei wesentlich.

 

Das Milgram-Experiment

Stanley Milgram, 1933 in New York geboren, promovierte in Sozialpsychologie an der Harvard University; er lehrte an der Yale University und in Harvard. 1964 erhielt er den jährlichen sozialpsychologischen Preis der American Association for the Advancement of Science für seine Untersuchung des Obrigkeitsgehorsams und ist heute Professor für Psychologie am Graduate Center der City University of New York. In seinem Buch „Das Milgram-Experiment: Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ beschreibt Stanley Milgram detailliert, nach welchen Kriterien die Untersuchungen durchgeführt worden sind und welche Aspekte für den Gehorsam und schlussendlich die Grausamkeit bei den Versuchspersonen eine Rolle gespielt haben. Dabei bezieht er sich u. a. auf das Buch „Eichmann in Jerusalem“ von Hannah Arendt, für das sie sich beträchtliche Verachtung hinzugezogen hatte. Die monströsen Taten, die Eichmann verübt hatte, rührten weniger aus einer sadistischen Persönlichkeit heraus als vielmehr aus der eines Bürokraten, der an seinem Schreibtisch saß und seine Arbeit erledigte. Die wichtigste Erkenntnis, die Stanley Milgram aus seinem Experiment gezogen hat, ist, dass ganz gewöhnliche Menschen schlicht und einfach ihre Aufgabe ausführen und ohne persönliche Feindseligkeit zu Handlungen in einem grausigen Vernichtungsprozess veranlasst werden können. Indem er die direkte Konfrontation einzelner Teilnehmer mit Autorität protokollarisch wiedergibt, wird der Leser für einen Moment Zeuge ihrer inneren Konflikte, ihres Zwiespalts zwischen Reden und Handeln.

„Während ich dies schreibe, sitzen über mir hochzivilisierte Menschen in Flugzeugen und versuchen mich zu töten. Sie hegen gegen mich als Individuum keine Feindschaft, wie ich nicht gegen sie. Sie ‚erfüllen nur ihre Pflicht‘, wie es so schön heißt. Ich zweifle nicht daran, daß die meisten von ihnen gutherzige, gesetzestreue Männer sind, die im Privatleben nicht einmal im Traum daran dächten zu morden. Wenn es aber andererseits einem von ihnen gelingt, mich mit einer gutgezielten Bombe zu zerfetzen, wird er deswegen keineswegs schlechter schlafen.“

George Orwell

Bereits bei den Philosophen Platon und Sophokles ist das moralische Problem abgehandelt worden, ob man Befehlen gehorchen soll, wenn diese der Gewissensüberzeugung widersprechen. Konservative Philosophen argumentierten dafür, denn Ungehorsam würde die Struktur der Gesellschaft bedrohen. Besser sei es, eine moralisch üble Tat zu begehen, als die Autoritätsstruktur zu untergraben. Humanistische Denker sprachen sich dagegen aus, in derartigen Fällen habe das individuelle Gewissen Vorrang, das moralische Urteil des Individuums sei bei einem Entscheidungskonflikt über die Autorität zu stellen. Fragt man im Vorfeld die Versuchspersonen, so empfinden diese genauso stark wie unsereiner die moralische Notwendigkeit, Zwangsmaßnahmen gegen ein hilfloses Opfer zu unterlassen. Doch hat dies wenig mit ihrem tatsächlichen Verhalten unter dem Druck der Umstände zu tun. Dazu zählt Milgram eine Reihe von „Bindungsfaktoren“, die diese an eine Situation ketten. Höflichkeit, das Bestreben, das ursprüngliche Versprechen dem Versuchsleiter gegenüber einzuhalten sowie die Scham auszuscheiden. Des Weiteren helfen Anpassungsmechanismen dabei, die Beziehung zum Versuchsleiter aufrechtzuerhalten, wodurch der Druck verringert werden kann. Die weitverbreitete gedankliche Anpassung besteht in der Nichtverantwortung. Die Versuchsperson streift die Verantwortung für das Handeln ab und schreibt diese dem Versuchsleiter als legitime Autorität zu.

„Aus den Äußerungen und dem Verhalten vieler Teilnehmer wurde deutlich, daß sie bei der Bestrafung des Opfers oftmals im Widerspruch zu ihren eigenen Wertmaßstäben handelten.“

Stanley Milgram

Eine erfolgreiche wissenschaftliche Forschung unterliegt der Einfachheit. Insbesondere dann, wenn es sich um Forschungsobjekte mit logischem Gehalt handelt. Personen erhalten in dem Experiment den Befehl, gegen eine andere Person in zunehmend strenger Weise vorzugehen. Um die Stärke des Gehorsams zu prüfen, soll sich der Druck erhöhen, der Ungehorsam zeigt. Das Verhalten vor dem Abbrechen gilt als Gehorsam, der Punkt des Abbruchs wird als Akt des Ungehorsams bezeichnet. Zu den Details der Untersuchung: In der 300 000 Personen zählenden Gemeinde New Haven wurden über eine Anzeige der Lokalzeitung Leute aus jeder Berufssparte zwischen 20 und 50 Jahre alt gesucht, die freiwillig an einer Untersuchung über Gedächtnisleistung teilnehmen wollten. Typische Versuchspersonen waren Oberschullehrer, Ingenieure, Arbeiter, Schalterbeamte der Post. Das Bildungsniveau reichte von Teilnehmern ohne High School-Abschluss bis hin zu welchen mit Doktortitel. In jedem Experiment gab es eine uneingeweihte Versuchsperson und ein „Opfer“. Der Vorwand für die Verabreichung der Schocks bestand darin, Psychologen hätten mehrere Theorien entwickelt, wie Menschen unterschiedliche Arten von Lernstoffen lernen. Eine davon lautet, dass der Mensch etwas lernt, wenn er jedes Mal für Fehler bestraft wird. Das Schema des Schockgenerators beinhaltete 30 Stufen, die erste Stufe lag bei 15 Volt, die höchste Stufe bei 450 Volt.

“Derselbe Mensch, der aus innerster Überzeugung Diebstahl, Tötung und Körperverletzung verabscheut, wird sich vielleicht doch in Akte des Raubens, Tötens und Folterns verstricken, und zwar ohne nennenswerten inneren Widerstand, sofern eine Autorität ihm den Befehl dazu gibt.“

Stanley Milgram

Die Nähe des Opfers reguliert das Verhalten der Versuchsperson. Ist das Opfer nahe, kann es weniger aus dem Bewusstsein verdrängt werden, der Leugnungsmechanismus kann nicht mehr einsetzen. Ist es nicht leichter, jemanden hinter seinem Rücken zu kritisieren, jemandem in die Augen zu schauen, wenn man ihn belügt oder sich voller Scham abwendet?! Dem Opfer eines Erschießungskommandos wird eine Augenbinde gestattet, um ihm die Angelegenheit zu erleichtern. Doch könnte diese nicht auch die Belastung des Henkers verringern?! Das Opfer wird aus der Gruppe ausgeschlossen, indem es in einen anderen Raum verbannt wird. Versuchsperson und Versuchsleiter kommen sich dadurch näher. Ein Bündnis gegen den Versuchsleiter wird dadurch ausgeschlossen, das Opfer wird zum Außenseiter.

„Mit betäubender Regelmäßigkeit war zu sehen, wie nette Leute sich den Forderungen der Autorität beugten und gefühllos und hart handelten.“

Stanley Milgram

Warum ist Gehorsam gegen Autorität eine starke und vorherrschende Anlage des Menschen? Ein Potenzial an Gehorsamsbereitschaft ist die Voraussetzung für eine stabile gesellschaftliche Organisation. Eine solche Organisation wiederum ist für das Überleben der Art von großem Wert. Im Tierreich wird der Platz eines Wolfes innerhalb der Hierarchie akzeptiert. Wenn alle Mitglieder einer menschlichen Gruppe ihren zugeschriebenen Status akzeptieren, ist die innere Harmonie gesichert. Gehorsamsverweigerung erfolgt in Sequenzen. Innerer Zweifel, äußerer Zweifel, Dissens, Drohung, Gehorsamsverweigerung. Der Preis dafür ist das nagende Gefühl, treulos gehandelt zu haben. Obwohl diese Versuchsperson moralisch richtig gehandelt hat, ist sie beunruhigt darüber, die soziale Ordnung durchbrochen zu haben. Ein Deserteur in einer Sache, zu deren Unterstützung sie sich verpflichtet hatte. „Diese Versuchsperson – und nicht die gehorsame – erlebt die Bürde ihrer Aktion.“

Stanley Milgram betont, dass es keine bestimmten Wesenszüge und Charaktereigenschaften gibt, die einen Menschen definieren, der sich einer Autorität unterwirft und jegliche Eigenverantwortung damit abgibt. Nach dem britischen Politikwissenschaftler Harold J. Laski ist es unsere Aufgabe, nichts zu akzeptieren, was unserer Grunderfahrung widerspricht, auch wenn es vonseiten der Tradition, der Übereinkunft oder der Autorität auf uns zukommt. Die Grundvoraussetzung für Freiheit in jeder Lage ist stets eine weit gestreute und konsequente Skepsis gegen die Kanons und Vorschriften, auf die Machthaber bestehen.

„Gehorsamsverweigerung ist das äußerste Mittel zur Beendigung von Spannung. Dieser Akt erfolgt nicht leicht. Er enthält nicht nur die Weigerung, einen bestimmten Befehl des Versuchsleiters auszuführen, sondern bedeutet auch eine Neuformulierung der Beziehung zwischen Person und Autorität. Gehorsamsverweigerung ist gefärbt von Furcht.“

Stanley Milgram

 

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner