Stanley Milgram, 1933 in New York geboren, promovierte in Sozialpsychologie an der Harvard University; er lehrte an der Yale University und in Harvard. 1964 erhielt er den jährlichen sozialpsychologischen Preis der American Association for the Advancement of Science für seine Untersuchung des Obrigkeitsgehorsams und ist heute Professor für Psychologie am Graduate Center der City University of New York. In seinem Buch „Das Milgram-Experiment: Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ beschreibt Stanley Milgram detailliert, nach welchen Kriterien die Untersuchungen durchgeführt worden sind und welche Aspekte für den Gehorsam und schlussendlich die Grausamkeit bei den Versuchspersonen eine Rolle gespielt haben. Dabei bezieht er sich u. a. auf das Buch „Eichmann in Jerusalem“ von Hannah Arendt, für das sie sich beträchtliche Verachtung hinzugezogen hatte. Die monströsen Taten, die Eichmann verübt hatte, rührten weniger aus einer sadistischen Persönlichkeit heraus als vielmehr aus der eines Bürokraten, der an seinem Schreibtisch saß und seine Arbeit erledigte. Die wichtigste Erkenntnis, die Stanley Milgram aus seinem Experiment gezogen hat, ist, dass ganz gewöhnliche Menschen schlicht und einfach ihre Aufgabe ausführen und ohne persönliche Feindseligkeit zu Handlungen in einem grausigen Vernichtungsprozess veranlasst werden können. Indem er die direkte Konfrontation einzelner Teilnehmer mit Autorität protokollarisch wiedergibt, wird der Leser für einen Moment Zeuge ihrer inneren Konflikte, ihres Zwiespalts zwischen Reden und Handeln.

„Während ich dies schreibe, sitzen über mir hochzivilisierte Menschen in Flugzeugen und versuchen mich zu töten. Sie hegen gegen mich als Individuum keine Feindschaft, wie ich nicht gegen sie. Sie ‚erfüllen nur ihre Pflicht‘, wie es so schön heißt. Ich zweifle nicht daran, daß die meisten von ihnen gutherzige, gesetzestreue Männer sind, die im Privatleben nicht einmal im Traum daran dächten zu morden. Wenn es aber andererseits einem von ihnen gelingt, mich mit einer gutgezielten Bombe zu zerfetzen, wird er deswegen keineswegs schlechter schlafen.“

George Orwell

Bereits bei den Philosophen Platon und Sophokles ist das moralische Problem abgehandelt worden, ob man Befehlen gehorchen soll, wenn diese der Gewissensüberzeugung widersprechen. Konservative Philosophen argumentierten dafür, denn Ungehorsam würde die Struktur der Gesellschaft bedrohen. Besser sei es, eine moralisch üble Tat zu begehen, als die Autoritätsstruktur zu untergraben. Humanistische Denker sprachen sich dagegen aus, in derartigen Fällen habe das individuelle Gewissen Vorrang, das moralische Urteil des Individuums sei bei einem Entscheidungskonflikt über die Autorität zu stellen. Fragt man im Vorfeld die Versuchspersonen, so empfinden diese genauso stark wie unsereiner die moralische Notwendigkeit, Zwangsmaßnahmen gegen ein hilfloses Opfer zu unterlassen. Doch hat dies wenig mit ihrem tatsächlichen Verhalten unter dem Druck der Umstände zu tun. Dazu zählt Milgram eine Reihe von „Bindungsfaktoren“, die diese an eine Situation ketten. Höflichkeit, das Bestreben, das ursprüngliche Versprechen dem Versuchsleiter gegenüber einzuhalten sowie die Scham auszuscheiden. Des Weiteren helfen Anpassungsmechanismen dabei, die Beziehung zum Versuchsleiter aufrechtzuerhalten, wodurch der Druck verringert werden kann. Die weitverbreitete gedankliche Anpassung besteht in der Nichtverantwortung. Die Versuchsperson streift die Verantwortung für das Handeln ab und schreibt diese dem Versuchsleiter als legitime Autorität zu.

„Aus den Äußerungen und dem Verhalten vieler Teilnehmer wurde deutlich, daß sie bei der Bestrafung des Opfers oftmals im Widerspruch zu ihren eigenen Wertmaßstäben handelten.“

Stanley Milgram

Eine erfolgreiche wissenschaftliche Forschung unterliegt der Einfachheit. Insbesondere dann, wenn es sich um Forschungsobjekte mit logischem Gehalt handelt. Personen erhalten in dem Experiment den Befehl, gegen eine andere Person in zunehmend strenger Weise vorzugehen. Um die Stärke des Gehorsams zu prüfen, soll sich der Druck erhöhen, der Ungehorsam zeigt. Das Verhalten vor dem Abbrechen gilt als Gehorsam, der Punkt des Abbruchs wird als Akt des Ungehorsams bezeichnet. Zu den Details der Untersuchung: In der 300 000 Personen zählenden Gemeinde New Haven wurden über eine Anzeige der Lokalzeitung Leute aus jeder Berufssparte zwischen 20 und 50 Jahre alt gesucht, die freiwillig an einer Untersuchung über Gedächtnisleistung teilnehmen wollten. Typische Versuchspersonen waren Oberschullehrer, Ingenieure, Arbeiter, Schalterbeamte der Post. Das Bildungsniveau reichte von Teilnehmern ohne High School-Abschluss bis hin zu welchen mit Doktortitel. In jedem Experiment gab es eine uneingeweihte Versuchsperson und ein „Opfer“. Der Vorwand für die Verabreichung der Schocks bestand darin, Psychologen hätten mehrere Theorien entwickelt, wie Menschen unterschiedliche Arten von Lernstoffen lernen. Eine davon lautet, dass der Mensch etwas lernt, wenn er jedes Mal für Fehler bestraft wird. Das Schema des Schockgenerators beinhaltete 30 Stufen, die erste Stufe lag bei 15 Volt, die höchste Stufe bei 450 Volt.

“Derselbe Mensch, der aus innerster Überzeugung Diebstahl, Tötung und Körperverletzung verabscheut, wird sich vielleicht doch in Akte des Raubens, Tötens und Folterns verstricken, und zwar ohne nennenswerten inneren Widerstand, sofern eine Autorität ihm den Befehl dazu gibt.“

Stanley Milgram

Die Nähe des Opfers reguliert das Verhalten der Versuchsperson. Ist das Opfer nahe, kann es weniger aus dem Bewusstsein verdrängt werden, der Leugnungsmechanismus kann nicht mehr einsetzen. Ist es nicht leichter, jemanden hinter seinem Rücken zu kritisieren, jemandem in die Augen zu schauen, wenn man ihn belügt oder sich voller Scham abwendet?! Dem Opfer eines Erschießungskommandos wird eine Augenbinde gestattet, um ihm die Angelegenheit zu erleichtern. Doch könnte diese nicht auch die Belastung des Henkers verringern?! Das Opfer wird aus der Gruppe ausgeschlossen, indem es in einen anderen Raum verbannt wird. Versuchsperson und Versuchsleiter kommen sich dadurch näher. Ein Bündnis gegen den Versuchsleiter wird dadurch ausgeschlossen, das Opfer wird zum Außenseiter.

„Mit betäubender Regelmäßigkeit war zu sehen, wie nette Leute sich den Forderungen der Autorität beugten und gefühllos und hart handelten.“

Stanley Milgram

Warum ist Gehorsam gegen Autorität eine starke und vorherrschende Anlage des Menschen? Ein Potenzial an Gehorsamsbereitschaft ist die Voraussetzung für eine stabile gesellschaftliche Organisation. Eine solche Organisation wiederum ist für das Überleben der Art von großem Wert. Im Tierreich wird der Platz eines Wolfes innerhalb der Hierarchie akzeptiert. Wenn alle Mitglieder einer menschlichen Gruppe ihren zugeschriebenen Status akzeptieren, ist die innere Harmonie gesichert. Gehorsamsverweigerung erfolgt in Sequenzen. Innerer Zweifel, äußerer Zweifel, Dissens, Drohung, Gehorsamsverweigerung. Der Preis dafür ist das nagende Gefühl, treulos gehandelt zu haben. Obwohl diese Versuchsperson moralisch richtig gehandelt hat, ist sie beunruhigt darüber, die soziale Ordnung durchbrochen zu haben. Ein Deserteur in einer Sache, zu deren Unterstützung sie sich verpflichtet hatte. „Diese Versuchsperson – und nicht die gehorsame – erlebt die Bürde ihrer Aktion.“

Stanley Milgram betont, dass es keine bestimmten Wesenszüge und Charaktereigenschaften gibt, die einen Menschen definieren, der sich einer Autorität unterwirft und jegliche Eigenverantwortung damit abgibt. Nach dem britischen Politikwissenschaftler Harold J. Laski ist es unsere Aufgabe, nichts zu akzeptieren, was unserer Grunderfahrung widerspricht, auch wenn es vonseiten der Tradition, der Übereinkunft oder der Autorität auf uns zukommt. Die Grundvoraussetzung für Freiheit in jeder Lage ist stets eine weit gestreute und konsequente Skepsis gegen die Kanons und Vorschriften, auf die Machthaber bestehen.

„Gehorsamsverweigerung ist das äußerste Mittel zur Beendigung von Spannung. Dieser Akt erfolgt nicht leicht. Er enthält nicht nur die Weigerung, einen bestimmten Befehl des Versuchsleiters auszuführen, sondern bedeutet auch eine Neuformulierung der Beziehung zwischen Person und Autorität. Gehorsamsverweigerung ist gefärbt von Furcht.“

Stanley Milgram

 

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