Verena Kast Titelbild

Verena Kast, Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut in Zürich. Sie hat zahlreiche, viel beachtete Werke zur Psychologie und der Interpretation von Märchen und Träumen verfasst. Bekannte Werke sind u. a. „Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung“, „Immer wieder mit sich selbst eins werden“ und „Schlüssel zu den Lebensthemen. Konflikte anders sehen“. Im Buch „Auf dem Weg zu sich selbst“ wurden Stellen zusammengetragen, die sich alle mit dem Individuationsprozess beschäftigen und zur Auseinandersetzung mit sich selbst anregen.

„Ganzwerden ist eine Utopie. Wir sind bestenfalls auf dem Weg.“

Das Ziel der Individuation bedeutet, der Mensch zu werden, der wir sein können. Oder auch: wachsen und sich entfalten. Aber ist das nicht automatisch eine Folge unseres natürlichen Lebensprozesses, die zu werden, die wir eigentlich sind? Werden wir nicht im Verlauf unseres Lebens immer echter und unverwechselbarer wir selbst? Ganz so selbstverständlich ist das nicht, denn indem wir in Beziehungen mit anderen stehen, müssen wir Kompromisse finden und uns anpassen. Wenn wir dann nicht mehr im Einklang mit uns selbst sind, haben wir uns verraten, sind uns untreu geworden. Passen wir uns so sehr an, weil wir den anderen gefallen wollen, dann sind wir nicht mehr bei uns und wissen irgendwann nicht mehr, wer wir sind. Wir werden zu einer künstlichen Persönlichkeit. Individuation hat zwei wesentliche Aspekte: Wir werden nie wissen, wer wir sind und wer wir sein können. Und, das Individuationsprinzip befindet sich immer in Auseinandersetzung mit den Erwartungen einer bestimmten Kultur an den Menschen. Individuation ist ein Prozess der Ablösung und Selbstwerdung, ein Weg zur eigenen Mitte und Tiefe. Nach dem Jungschen Verständnis heißt das Ganzheit, die zu jeder Zeit etwas anderes ist.

„Die Lebensaufgabe, die die Eltern nicht erfüllten, wird zur Lebensaufgabe, die die Kinder zu erfüllen haben.“

Nach dem Weltbild der Jungschen Psychologie ist das, was außen ist, auch innen und das, was innen ist, auch außen. Das heißt, sich nicht nur von kollektiven Werten, Elternkomplexen und Rollenerwartungen zu lösen, sondern auch vom Verhaftetsein ans Unbewusste. Mündig werden. Wenn wir etwas nicht loslassen können, an Ort und Stelle treten, wird die Energie, die wir eigentlich für den Neuanfang bräuchten, für den Kampf und die Wut gegen uns selbst benutzt. Dann treten anstelle lebendiger Entwicklung starre Gesetze ein als Zeichen von Unsicherheit und Angst. Wir trauen uns positive schöpferische Veränderungen nicht mehr zu. Dann versuchen wir, die Probleme mit den alten (untauglichen) Methoden zu lösen, verschleppen sie aber dadurch nur noch mehr.

„Mit Macht versuchen wir also etwas festzuhalten, was sich nicht mehr von selbst am Leben hält, sich also dringend verändern müßte.“

Zur Autonomie gehört es, dass wir unsere Werte und Haltungen überprüfen.  Ein Schritt Richtung Autonomie ist es, zunächst einmal die Situationen zu verlassen, in denen diese herrschen. Denn solange wir daran festhalten, sind wir zwar einigermaßen sicher, aber nicht wirklich autonom. Autonomes Handeln wird von Gefühlen wie Selbstbewirkthaben, Schuldigsein, aber auch der Stimmigkeit begleitet. Ein wesentliches Element der Autonomie ist die Sehnsucht, sie zieht uns raus aus dem Gewohnten und lässt uns nicht verzagen, wenn wir eine Durststrecke durchlaufen. Sie gibt uns den Mut, ins Unbekannte hinauszugehen.

„Natürlich lassen wir nicht gerne los, lassen wir nichts gerne sterben, was uns noch lieb ist. Aber gerade dann bleibt das Leben lebendig, wenn wir auch immer wieder etwas sterben lassen.“

Wir sind verwurzelt in mannigfacher Weise. Im Laufe des Lebens werden einige Wurzeln unwichtig, manche kappen wir selbst ab, weil wir uns verändern möchten. Dabei erleben wir eine Zeit der „Wurzellosigkeit“, die sich in Unsicherheit, Unruhe, des Suchens und einer Angst zeigt, in der uns klar wird, dass wir etwas hinter uns gelassen haben. Erst wenn wir der Trauer Raum geben, diese zulassen, lösen wir uns von der alten Verwurzelung. Tun wir das nicht, bleiben wir „unverwurzelt“ zurück, in einer Art Übergangssituation. Die alte Situation existiert nicht mehr, der neuen traut man nicht. Ob wir eine Krise als eine Lebenssituation sehen können, in der sich existenziell Wichtiges ereignet oder als lästiges unwillkommenes Beiwerk des Lebens, hat Einfluss darauf, ob eine Krise zu einer Chance wird. Zu wissen, dass jede Krise eine grundsätzliche Wandlung entstehen lassen kann, ist dabei wesentlich.

 

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